Software gestützte Frequenzweichenentwicklung ...oder Simulation vs. "Realität"

messung_simu

Es sollen in diesem Artikel die Arbeitsweise, die weitreichenden Möglichkeiten und letztendlich  auch die Verlässlichkeit einer Software gestützten Frequenzweichenentwicklung betrachtet werden. Es wird ausschließlich die Nutzung des Rechners als virtuelle Frequenzweiche betrachtet. Keine Gehäusesimulation, keine Frequenzweichensimulation nach Datenblättern , TSP oder irgendwelchen anderen Parametern die nicht auf realen Messungen am Objekt beruhen ⇒ Alle relevanten Daten werden aus realen Messungen gewonnen!

Die konkrete Herangehensweise bei einer Software gestützten Frequenzweichenentwicklung ist in aller Regel folgende

  • Konzepterstellung (Treiber/Gehäuse/Schallwandgeometrie) unter Berücksichtigung aller möglichen Faktoren, auf die hier nicht näher eingegangen wird
  • Aufbau des Lautsprechers: Gehäusebau, Absorption/Dämmung, Verkabelung, Bassabstimmung (BR/CB etc.) ⇒ Ohne Frequenzweiche
  • Einmessung der einzelnen, ungefilterten Treiber: Amplitudenfrequenzgang inklusive relativer akustischer Phase unter allen gewünschten Winkeln und Impedanzgang
  • Import der Messdaten in die Software, in diesem Fall Xover 2.04A

An dieser Stelle eine Anmerkung: Die Einmessung eines 2-Wege Lautsprechers unter zB. 22 Winkeln (+-90° horizontal in 15° Schritten und +-20° vertikal in 5° Schritten) inklusive Impedanzmessungen dauert ~15 Minuten

Stellen wir uns folgenden Messaufbau vor

  • Eine Kaskade aus „n“ identischen Messmikrofonen in horizontaler und vertikaler Ebene um den Lautsprecher, die sich gegenseitig nicht beeinflussen
  • Eine Messvorrichtung zum erfassen der Impedanzgänge der Einzeltreiber und des ganzen Lautsprechers gleichzeitig, ohne dabei Einfluss auf die Ergebnisse zu nehmen
  • Hardware, die sämtliche Messergebnisse in Echtzeit verarbeiten und ausgeben kann
  • Software, die sämtliche Messergebnisse in Echtzeit verarbeiten und ausgeben kann
  • Alle benötigten Bauteile ohne Abweichung vom Sollwert … Bzw. Bauteile, die per Regler auf einen beliebigen Wert einstellbar sind
  • Einen schalltransparenten Helfer, der auf Anweisung Bauteile wechselt/einstellt 😉

Alles nicht wirklich machbar, soll aber verbildlichen was möglich ist wenn wir alle Daten nacheinander sammeln und dann die Software damit arbeiten lassen.

Hier nun exemplarisch der Ablauf einer Frequenzweichenentwicklung mit Xover 2.04a

Das Programm steht auf den Seiten der Interessengemeinschaft DIY Hifi (IGDH e.V) als Download zur Verfügung.

Links oben: 0-90° Horizontal, Summe/Zweige und Phase
Rechts oben: 0° und +-15° vertikal, Summe/Zweige und Phase
Mitte unten: Impedazgänge Zweige und Gesamt
Unten rechts: Spannungsfrequenzgang
Quizfrage: Was ist da los bei 1kHz? Nutze gerne die Kommentarfunktion :)

Wir haben ein virtuelles Frequenzweichenbrett auf dem Bildschirm, und sehen die Auswirkungen einer jeden Bauteileänderung auf die Amplitudenfrequenzgänge (Horizontal und vertikal), Phase, Impedanzgang & Spannungsfrequenzgang in Echtzeit. Wir können gleichzeitig Dinge betrachten die sich der Zu-Fuß-Entwickler, wenn überhaupt, nur nacheinander ansehen kann.

„Zu Fuß“ gibt es idR. ein Mikrofon, eine Impedanzmessstrippe und ein Bauteil das gewechselt wird. Dann kann man sich einen Zweig oder den Summen,- oder den Impedanzfrequenzgang ansehen. Alles unter einem Winkel. Die Auswirkungen einer Bauteileänderung kann grundsätzlich nur unter einem Aspekt betrachtet werden. Die Auswirkungen auf andere Aspekte müssen „erahnt“ werden…

Wenn Ich die Flankensteilheit des Hochtöners zugunsten einer besseren Phasenlage verändere, wie wirkt sich das auf das Abstrahlverhalten horizontal und,- oder vertikal aus?

Natürlich können auch so sehr gute Lautsprecher entstehen. Direct-HA ist der letzte Lautsprecher den ich so entwickelt habe … Die Ergebnisse sind sehr gut, aber es hat Stunden gebraucht für Dinge die jetzt in Minuten bzw. Sekunden gehen. Inzwischen erachte ich es als sehr fragwürdig ob das letzte Quäntchen an Detail bei einer Zu-Fuß-Entwicklung wirklich erreicht werden kann.

Stellt sich noch die Frage nach der Genauigkeit…

Um es nicht ganz unprovokativ vorwegzunehmen: Die virtuelle,- ist genauer als die reale Entwicklungsweiche 😉 …

Wir haben echte Messwerte der Treiber (Amplitudenfrequenzgang inkl. rel. Phase und Impedanzgang) und stecken Diese in einen (virtuellen) Wechselstromkreis mit frequenzabhängigen (L/C) und frequenzunabhängigen (R) Impedanzen. Die Wirkweise von Kondensatoren, Spulen und Widerständen ist formelmäßig erfassbar. Es gibt keine relevanten Unbekannten.

Im Unterschied zur „echten“ Entwicklungsweiche gibt es praktisch keine Fehlerquellen. Die Bauteile haben keinerlei Abweichungen, es gibt keine erhöhten Übergangswiderstände, keine Verkabelungsfehler, keine Bauteilverwechslungen, keine kalten Lötstellen.

So die Realität am Ende abweicht, gibt es eigentlich nur wenige Möglichkeiten:

  • Messbedingungen haben sich geändert (Messaufbau, Temperatur,  …)
  • Bauteile weichen vom Sollwert ab
  • Fehler im Aufbau (Frequenzweiche, Verkabelung, fehlerhafte Bauteile …)

Wenn wir unseren Einmessungen trauen, können wir bei Differenzen zwischen Realität und Simulation, den Fehler am realen Objekt suchen. Oft kann auch hierbei die Simulation helfen. Wir führen dort gezielt solange Änderungen durch bis die Ergebnisse dem Fehler entsprechen. So habe ich nicht selten herausgefunden welches Bauteil vom Normwert abweicht, wo ein Übergangswiderstand zu groß ist, oder an welcher Stelle zwei Bauteile verwechselt wurden. Veröffentlicht wird nicht bevor Simulation und finale Messungen des Lautsprechers praktisch übereinstimmen. Die virtuelle Frequenzweiche als zuverlässiges Fehlerdiagnosetool!

Hier noch ein Beispiel der Übereinstimmung zwischen Simulation und Messung am fertigen Lautsprecher:

Im Wechseln Simulation und finalen Messungen eines Lautsprechers unter horizontalen Winkeln von 0-90° in 15° Schritten

Es kann praktisch von Deckungsgleichheit unter allen Winkeln gesprochen werden. Die minimalen Abweichungen beruhen auf leichten Abweichungen im finalen Messaufbau und ggf. Toleranzen bei den Bauteilen.

Die Vorteile einer Software gestützten Frequenzweichenentwicklung noch einmal zusammengefasst

  • Zeit
  • Material: Kein Schrank mit Bauteilen von Nöten.
  • Effizientere Frequenzweichen: Sowohl „Zu Fuß“ als auch in der Simulation läuft eine „Filterfindung“ z.B. so ab: Man beginnt mit einem, sagen wir Hochpass 2. Ordnung und einem Spannungsteiler. Dann stört noch eine Überhöhung, die dann mit einem Sperr,- oder Saugkreis glattgebügelt wird. So nun alles gut aussieht ist man „Zu Fuß“ fertig. In der Simulation kann man jetzt versuchen eine Filterfunktion zu finden, die mit weniger und/oder günstigeren Bauteilen ein identisches Ergebnis liefert … funktioniert häufig!
  • Die Simulation als Fehlerdiagnosetool. Wenn Simulation und finale Messungen übereinstimmen kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem fehlerfreien Aufbau ausgegangen werden. Sehr gut in Sachen „Nachbausicherheit“
  • Steile Lernkurve in Sachen Filterdesign, durchaus auch bei erfahrenen Entwicklern …
  • Variabilität: Es können Variationen eines Lautsprechers auch im Nachhinein erstellt werden, weil ein vollständiges  und verifiziertes Simulationsmodel existiert.
  • „Trial & Error Weiche“ bis es passt => vorab definierte akustische Filterflanken
  • Die Kaskade aus „n“ identischen Messmikrofonen ⇒ Ein äußerst praxisnaher Weg hin zum „controlled Directivity“ Lautsprecher

Zum Abschluss:

Die Kunst einen guten Lautsprecher zu entwickeln sollte nicht primär im Frequenzweichendesign, sondern vielmehr in der Findung eines, für den vorgesehenen Arbeitsbereich stimmigen Gesamtkonzepts liegen. Sehr gute Treiber finden und einen sinnvollen Arbeitsbereich definieren. Ein gutes Gehäusedesign (Innen und Außen) und die so oft außer acht gelassene Schallwandgeometrie. Wie die Treiber letztendlich gefiltert werden wollen ist, in meinem Empfinden, durch das Gesamtkonzept weitestgehend vorgegeben. Theoretisch könnten wir die Frequenzweichenentwicklung auch vollkommen dem Rechner überlassen … Ein guter Weichenoptimierer, gefüttert mit 360° Messungen horizontal, vertikal und diagonal, dem wir Vorgaben machen bzgl. Energieverhalten des Lautsprechers und Einsatzbereich der Treiber, wird bessere/effektivere Weichen finden als wir das vermögen. Ausgenommen davon ist natürlich „der erste Wurf des erfahrenen Entwicklers“ 😉

14 Gedanken zu „Software gestützte Frequenzweichenentwicklung ...oder Simulation vs. "Realität"

  1. Hallo , danke erstmal für den gelungenen Artikel!
    Vor 1kHz fängt der TMT schon an zu bündeln. Die Erhöhung des Schallpegels um 1kHz würde ich auf die Geometrie der Schallwand zurück führen. Ich vermute es handelt sich um Kantendiffraktionen.

    Gruß

    Bernhard

    1. Hallo Bernhard
      Nein … Beide Treiber haben praktisch keine Probleme mit Kantendiffraktion. Die Störstelle um 1kHz kommt nicht von den Treibern, auch nicht von der Schallwand. Sie ist auch leicht zu beheben …
      Noch ein Versuch?

      1. Also dann liegts an der Impedanz? Was wäre wenn man die Trennfrequenz anpasst oder eine Impadanzkorrektur vornimmt? Aber das die Störung um 1 kHz dann nur so stark unter Winkel auftritt müsste dann ja doch etwas mit Abstrahlverhalten der Treiber zu tun haben! Ich bin gespannt was des Rätsels Lösung ist….

          1. OK, da wäre ich nie drauf gekommen,ausser vielleicht ich hätte die Box selbst gemessen / entwickelt. Darin bin ich aber nicht besonders erfahren.
            Ich habe die ganze Zeit überlegt warum es nur unter Winkel so stark auftritt…. Jetzt verstehe ich!
            Wie würde die Resonanz dann behandelt?
            Einfach mit Dämmmaterial den abgestrahlten Mitteltonanteil vom TMT absorbieren?

            P.S.:
            Wann wir die Cinetor Evo fertig sein?

  2. Behandelt wurde die Störung durch eine Kombination aus Portposition/Portlänge & Modifikationen beim Dämmmaterial.

    Cinetor EVO ist eigentlich fertig … muss nur noch den Artikel und die Baumappe fertig machen 🙂

    Herzliche Grüße

  3. Hallo,

    ich bin begeistert von dem Konzept der Software. Leider finde ich keine Infos über das Dateiformat, das die Importdateien haben müssen.
    Mit .txt aus ARTA klappts bei mir nicht.

    Gruß
    Mario

    1. Hallo Mario
      Ich zitiere mal aus der Anleitung die auf den Seiten der IGDH zu finden ist:
      „LsSoft akzeptiert beim Import die Formate “txt”
      oder “frd” bzw. “zma”. Beide Formate können
      aus ARTA exportiert werden, in der Regel
      jedoch auch aus anderen Messprogrammen.“
      Ich vermute, Du hast den Frequenzgang ohne die Phaseninformationen exportiert?!
      Die musst Du in ARTA vorher sichtbar machen, und dann erst exportieren.

      Viele Grüße
      Alexander

          1. Hallo Alexander,
            habe selbiges Problem jedoch mit dem Programm ATB Pc Pro. Funktioniert leider nicht. Habe es mit txt oder frd Format probiert..geht nicht. Habe, wie beschrieben, die Y-Achse angepasst und den Pfad in das selbige Verzeichnis wie das Programm gelegt (Windows 7)…geht nicht. Wäre ansich auch begeistert nicht mehr alles „zu Fuß machen zu müssen“.
            Hervorragende Seite, vor allem die Grundlagen…
            Viele Grüße
            Reinhard

  4. Hallo Reinhard,
    ich bekomme immer die Meldung, dass das Network INACTIVE ist!
    Kannst du mir dafür eine Lösung geben?

    Beste Grüße
    Andreas

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